Für den Osten der Ukraine gilt zwar eine Waffenruhe, doch noch immer gibt es fast täglich Verletzte und Tote. Das Parlament in Kiew hat nun ein Gesetz verabschiedet, das für das Gebiet schwerwiegende Folgen haben dürfte. Denn es verhängt faktisch das Kriegsrecht über die Oblaste Donzek und Lugansk.
Von Sabine Adler
Parlamentspräsident Andrej Paruby bittet um den Knopfdruck der Abgeordneten. Drei Tage hat die Werchowna Rada fast 700 Änderungen in dem Gesetz über die Re-Integration des Donbass teilweise chaotisch debattiert, Ende vergangener Woche wurde es angenommen. Zur Freude von Präsident Petro Poroschenko, der es eingebracht hatte.
“Heute hat das ukrainische Parlament mit 280 Stimmen das Gesetz über die Re-Integration des Donbass verabschiedet.”
Bei 36 Gegenstimmen und zwei Enthaltungen. Vizeparlamentspräsidentin Oksana Syroid von der Partei Selbsthilfe, war seit langem für das Donbass-Gesetz.
“Ich habe nur eine Frage: Kann ich als Abgeordnete dorthin oder nicht? Nein! Haben wir die Gebiete deswegen abgetrennt? Nein. Aber wir müssen die Realität anerkennen, dass Russland diese Gebiete okkupiert hat – die Krim wie den Donbass.”
Ende der Kompensationszahlungen
Im sogenannten Oppositionsblock, der aus der Partei des Ex-Präsidenten Viktor Janukowitsch hervorging, hält man von dem Gesetz gar nichts, es sei ungeeignet, das okkupierte Gebiet wieder zurückzuholen. Noch viel kritischer sehen es Menschenrechtsaktivisten wie Darina Tolkatsch. Vergeblich hatten die Juristen ihrer und anderer NGO vor diesem Gesetz gewarnt. Ihre Organisation “Recht auf Schutz” hilft seit Jahren Kriegsflüchtlingen, Entschädigungsansprüche durchzusetzen. Sie befürchtet, dass jetzt niemand mehr Kompensationszahlungen bekommt.
“Im Gesetz wird allein Russland für die Kriegsschäden verantwortlich gemacht. Für die Bürger heißt das, dass sie jetzt in einem ukrainischen Gericht Klage gegen die Russische Föderation einreichen müssen. Wie das funktionieren soll, erklärt niemand.”
Als Agent des Kremls abgestempelt
In der Präambel des Gesetzes wird Russland als Aggressor bezeichnet, was für die meisten Abgeordneten eine Genugtuung ist, sofern sie für das Gesetz über die Re-Integration des Donbass gestimmt haben. Wer es aber kritisiert, wird schnell als Agent des Kremls abgestempelt. Pawel Lissjanksi von der Ostukrainischen Menschenrechtsorganisation nimmt trotzdem kein Blatt vor den Mund.
“Das Gesetz ist reiner Populismus. Es ist ein Zeichen, dass der Präsidentschaftswahlkampf angefangen hat. Im kommenden Jahr ist die Wahl. Man will Punkte sammeln. Nur die Menschen in den besetzten Gebieten werden weiter keine Renten bekommen, auch nicht die ausstehenden Löhne, die ihnen die ukrainische Regierung noch aus dem Jahr 2014 zahlen müssteEs geht nicht um Re-Integration, sondern um die Ausweitung der Vollmachten der Sicherheitskräfte.”
Drei unterschiedliche Zonen in der Ukraine
Künftig gibt es drei unterschiedliche Zonen in der Ukraine: eine besetzte mit den selbstausgerufenen Volksrepubliken. Eine sichere – die freie Ukraine. Und eine Pufferzone, für die man spezielle Ausweise vom neuen Oberkommando der Streitkräfte braucht. Zu dieser Pufferzone werden die Oblaste Donezk und Lugansk werden, wo die Bevölkerung zwar nahe am okkupierten Gebiet, aber doch fast so normal wie im Rest der Ukraine lebte. Jetzt wird dort quasi Kriegsrecht herrschen, sagt die Juristin Darina Tolkatsch.
“Eine Verhängung des Kriegszustandes enthält normalerweise auch Pflichten gegenüber der Zivilbevölkerung. Hier nicht, denn es fehlt der Anspruch auf Evakuierung. Künftig dürfen die Sicherheitsorgane Zivilisten in dieser Pufferzone, im gesamten Donezker und Lugansker Gebiet, Personen mit Waffengewalt festnehmen, Durchsuchungen durchführen und Eigentum beschlagnahmen, Häuser, Wohnungen und Autos zum Beispiel. Außerdem dürfen im ganzen Land künftig Telefonate abgehört und e-mails mitgelesen werden.”
Markt in Stanzija Luganskaja
Stanzija Luganskaja ist ein winziger Ort wenige Kilometer von der Frontlinie entfernt. Hier befindet sich einer der nur fünf Übergänge an der viele hunderte Kilometer langen Grenze zwischen okkupiertem und nicht besetztem Gebiet. Die Lebensmittel auf dem Markt hier sind weit günstiger als in den Volksrepubliken, jeder schleppt, was er kann, über die Grenze. Ein Gesetz, das die Menschen aus den Separatistenrepubliken wirklich zurück in die Ukraine holen wollte, würde zuallererst hier, an den zu Dauerprovisorien verkommenen Übergängen, bessere Bedingungen schaffen, die die eigenen Bürger willkommen heißen.
Stattdessen lässt man die vor allem alten Menschen, die sich ihre Rente in der Ukraine abholen müssen, bei Wind und Wetter unter freiem Himmel warten. Nirgendwo gibt es ein Dach über dem Kopf, nirgends einen Platz, im Warmen einen Tee zu trinken. Der einzige Luxus sind ein zehn Meter langes Dach aus Folien der UN-Flüchtlingsorganisation und Zelte vom Roten Kreuz.
“Hier haben wir Leute, die schlecht zu Fuß sind, 70-80jährige, die einen Rollstuhl brauchen oder sich aufwärmen müssen. Wollen Sie einen Tee?”
Rückgang der Bürgerrechte
Irina, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte wegen ihres Jobs in der neuen Pufferzone, befürchtet, dass es mit den Bürgerrechten nach diesem Gesetz weiter bergab gehen wird.
“Schon lange dürfen wir keine Meetings oder Demonstrationen abhalten oder auf eine andere Art unseren Protest zum Ausdruck bringen. Das wird sofort als Separatismus ausgelegt. Den Menschen ist schon jetzt das Recht auf freie Meinungsäußerung genommen, das neue Gesetz erhöht den Druck noch weiter.”
Aufruf zum internationalen Gebet (Deutschlandradio / Sabine Adler)
Darina Tolkatsch prophezeit eine neue Fluchtwelle aus der künftigen Pufferzone, deswegen hofft sie, dass es diesem Gesetz wie vielen ukrainischen ergeht: sie werden nicht umgesetzt. Theoretisch könnte Präsident Poroschenko noch sein Veto einlegen, doch er hat bereits angekündigt, zu unterschreiben.
Dass die Separatistenrepubliken nicht per Gesetz in die Ukraine zurückgeholt werden können, scheint ausgemacht, dass es trotzdem verabschiedet wurde, erklärt sich die junge Anwältin mit der Wahl:
“Es nützt vor allem dem Präsidenten, denn die faktische Ausrufung des Kriegszustandes in einigen Oblasten erlaubt der Regierung, die Wahlen nächstes Jahr abzusagen.”